Akritische Betrachtungen

24.09.2015 07:28

Das Bild denkt nicht.

Beginnen wir wieder mit einem Satz.

"Du raubst mir den Verstand!"

Und fügen einen weiteren an:

"Du raubst mir die Sinne!"

Was ist vorzuziehen, den Verstand an die Räuberin / den Räuber (hier ist gendergerechte Formulierung unabdingbar) zu verlieren oder die Sinne? Diebstahl ist es allemal.

Wer sein Hirn oder sein Herz offen stehen lässt, ist natürlich mitschuldig am Verbrechen. Er hat der Täterin / dem Täter (s. o.) schließlich sehenden Auges die Gelegenheit dazu gegeben. Die Versicherung zahlt nicht. Die Unkosten hat das Opfer selbst zu tragen, ein Leben lang.

Andererseits ist der Verlust vielleicht gar nicht so groß. Schließlich sind, so wenigstens Kant, sowohl Verstand als auch Sinnlichkeit wenn nicht negative, so doch limitative Vermögen, insofern sie einander gegenseitig einschränken. „Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken“ (KrV B 76), und wenn auch gilt, dass nur aus ihrer Vereinigung Erkenntnis entspringt (vgl. a. a. O., 76 f.), so sind doch im Umkehrschluss die Sinne nur zur Anschauung, der Verstand nur zum Denken fähig: Der Sinne beraubt, gehe ich deswegen nicht auch schon des Denkens verlustig; des Verstandes ledig, bleibt mir doch das Vermögen der Anschauung.

Daraus folgt aber immerhin, mit Blick auf unsere beiden Eingangssätze formuliert, dass, während Denken zwar offenkundig nicht bildet – es dem der Anschauung Beraubten daher auch keine wirkliche Zuflucht bietet -, doch jedenfalls und a fortiori festzuhalten ist, dass das Bild nicht denkt. Es gibt uns lediglich Gegenstände (vgl. KrV B 74) und, was Kant nicht gesehen hat, es nimmt sie uns auch: Der in der Anschauung gegebene Gegenstand ist ein dem Denken prinzipiell entzogener oder sich ihm seiner Tendenz nach entziehender; andernfalls wären die beiden Stämme der Erkenntnis nicht so radikal getrennt, dass aus der Einsicht in diese Trennung die Forderung und der Auftrag erwüchse, sie ineinander zu überführen, die „Begriffe sinnlich“ und die „Anschauungen sich verständlich zu machen“ (KrV B 76). Das unter Begriffe gebrachte Bild ergibt freilich ein Unding, also ein im logischen wie im empirischen Sinne unmögliches Ding, da doch ungeachtet der erkenntnistheoretisch notwendigen Forderung nach Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand „die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann“ (KrV 75, Hervorh. d. A.). Sowenig wie das Bild also für sich genommen denkt, kann es durch Anwendung des Verstandes zum Denken gebracht werden. Es ist und bleibt blind.

Dass das Bild reine Anschauung ist und bleibt, zieht nach sich, dass es ohne Verstand nichts ist. Seiner beraubt zu werden, stellt insofern weniger einen Verlust für das Denken dar als vielmehr eine Beleidigung des Verstandes. Die Beraubung besteht denn auch nicht in einem Fehlen der Bilder, sie vollzieht sich ganz im Gegenteil in Form einer wahren Flut, ja einer schier unendlichen Überflutung des Verstandes mit Bildern und durch diese hindurch.

Die Räuberin / der Räuber von sei’s den Sinnen, sei’s des Verstandes, um an den Ausgangspunkt unserer beiden Sätze zurückzukehren, begeht ihren / seinen Diebstahl, ihr / sein Verbrechen also auf die paradoxe Weise nicht des von Räubern gemeinhin zu erwartenden Wegnehmens oder Entfernens von etwas, sondern dadurch, dass sie / er dem Haushalt, in dem sie / er ihr /sein Unwesen treibt, etwas hinzufügt, dass sie / er darin, in der Ökonomie der Anschauungen und des Verstandes, etwas hinterlässt und diese Ökonomie stört, sie aus dem ohnehin prekären Gleichgewicht bringt.

Obwohl das Verbrechen also offenkundig ist und buchstäblich vor aller Augen geschieht, findet sich kein Gerichtshof und kein Richter, der es anklagt, nicht auf Seiten der Sinne und nicht auf der des Verstandes. „Die Sinne betrügen nicht“, heißt es in Kants Anthropologie (§ 11), schon weil sie nicht urteilen (das ist eine dem Verstand vorbehaltene Tätigkeit); und wer urteilt, darf nicht den Betrug im Sinn haben. Kein Wunder, dass die Versicherung nicht zahlt.

Indes ist es jeder Betrachterin / jedem Betrachter der von den Sinnen gelieferten Anschauungen ein leichtes, sich gleichsam diesseits aller unmöglichen verstandesmäßigen Urteile ein an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassendes Bild von der Sache zu machen – so ihr / sein Hirn, ihr / sein Herz nicht durch den vollzogenen Raub geblendet ist.